4. Was ist eine abhandengekommene Willenserklärung?
a. Wann liegt eine abhandengekommene Willenserklärung vor?
Es kann vorkommen, dass eine Erklärung bereits fixiert ist, aber noch nicht in den Rechtsverkehr gelangen soll.
- Fall 1: A kreuzt auf einem Bestellformular für einen Versandhändler Gegenstände an und trägt seine Adresse ein. Das Formular lässt er auf seinem Schreibtisch liegen, weil er im Fernsehen seine Lieblingsserie sehen will.
- Fall 2: A verfasst in seinem Emailprogramm eine Email an B, in welcher er diesem einen Antrag auf Abschluss eines Vertrages unterbreitet (§ 145 BGB). Daraufhin geht er zum Mittagessen, ohne die Email vorher abzusenden.
Bei solchen Vorratserklärungen ist es bereits fraglich, ob der Verfasser mit Erklärungswillen gehandelt hat und damit überhaupt eine Willenserklärung vorliegt.
- So mag A sich in Fall 1 vorbehalten haben, weitere Artikel zu ergänzen oder Artikel aus seiner Bestellung zu streichen. Rechtsgeschäftlich handeln will er nicht bereits beim Ankreuzen, sondern erst beim Absenden. Füllt er 10 Formulare aus, von denen er 9 zerreist und in einen Mülleimer wirft, scheint es seltsam, 10 Willenserklärungen (von denen 9 nicht wirksam geworden sind) anzunehmen.
- In Fall 2 kann A es sich noch anders überlegen und den Entwurf löschen oder ganz andere Vertragsbedingungen eintragen. Solange er Änderungen vornimmt, ist fraglich, ob er schon ein Rechtsgeschäft abschließen will. Das dürfte erst bei einer fertigen Fassung (d.h. beim Absenden) der Fall sein.
Wenn Sie den Erklärungswillen bejahen, gelangen Sie zu der Folgefrage, was gelten soll, wenn die Erklärung ohne den Willen des Erklärenden in den Rechtsverkehr und dort zum intendierten Empfänger gelangt.
- Bei Fall 1 kann etwa die Ehefrau, die Putzfrau oder ein Kind den Bestellzettel sehen und ihn in den Briefkasten werfen.
- In Fall 2 mag jemand auf "Absenden" drücken und so die Erklärung an B übermitteln.
Hier liegt für erfahrene Juristen eine Parallele zum Begriff des "Abhandenkommens" aus dem Sachenrecht (§ 935 Abs. 1 S. 1 BGB), der auf den Verlust des Besitzes an einer Sache ohne den Willen des bisherigen unmittelbaren Besitzers abstellt. Man spricht daher von einer abhandengekommenen Willenserklärung, bei der statt des Besitzes an einer Sache die Erklärung den Betroffenen ohne dessen Willen verlassen hat.