II. Was setzt § 138 Abs. 1 BGB voraus?
1. Wie wird der Begriff der "guten Sitten" definiert?
Was gute Sitten sind, ist ein ausfüllungsbedürftiger Begriff. In der Klausur sollten Sie in jedem Fall die folgende, gängige Definition erwähnen:
Ein Verhalten ist sittenwidrig, wenn es gegen das Anstandsgefühl aller (!) billig und gerecht Denkenden verstößt.
Das bedeutet, dass jeder Mensch, der ein gegen § 138 BGB verstoßendes Verhalten als akzeptabel ansieht, nicht gerecht, zumindest aber nicht billig denkt. Ein Verhalten, das auch nur von einem einzigen billig und gerecht Denkenden akzeptiert wird, ist nicht sittenwidrig. Es handelt sich also um einen sehr strengen Maßstab, insbesondere weil in einer modernen pluralistischen Gesellschaft unterschiedlichste Anstandsvorstellungen existieren. Auf den folgenden Seiten werden wir uns näher mit diesem Tatbestand befassen.
Der Begriff der Sittenwidrigkeit wird auch durch die in den Art. 1-19 GG geregelten Grundrechte präzisiert. Insoweit wirkt die Verfassung als objektive Wertordnung in das Zivilrecht ein (mittelbare Drittwirkung der Grundrechte).
Im sogenannten "Lüth-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 7, 198) hatte Erich Lüth über die Presse dazu aufgerufen, den unter der Regie von Veit Harlan entstandenen Film "Unsterbliche Geliebte" zu boykottieren. Die Produktionsfirma erwirkte beim zuständigen LG eine einstweilige Verfügung gegen Lüth auf Grundlage von § 826 BGB (vorsätzliche sittenwidrige Schädigung), § 1004 BGB, durch die ihm untersagt wurde „die deutschen Theaterbesitzer und Filmverleiher aufzufordern, den Film nicht in ihr Programm aufzunehmen und das deutsche Publikum aufzufordern, diesen Film nicht zu besuchen“.
Auf Verfassungsbeschwerde von Lüth hob das BVerfG die Entscheidung auf - im Rahmen der Sittenwidrigkeit hätte die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) berücksichtigt werden müssen. Diese sei nicht hinreichend gewürdigt worden, so dass die einstweilige Verfügung aufzuheben sei.